Carsten Hnida
Rechtsanwalt


Rechtliche Vertretung in EMR-Angelegenheiten ist sinnvoll

 Ein Versicherter bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) entschließt sich, aufgrund seiner bisherigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und der Erkenntnis, dass den Anforderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr gewachsen ist, einen Antrag auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente zu stellen. Oftmals wird er von einem Gutachter der DRV bzw. einem von der DRV beauftragten Gutachten untersucht. Das von ihm erstellte Gutachten bildet dann die Grundlage der Entscheidung. Lehnt die DRV den Antrag ab, kann der Versicherte innerhalb eines Monats ab Zugang der Ablehnung in Widerspruch gehen. Anders als in anderes Verwaltungsverfahren existiert hier nicht eine eigenständige Widerspruchsbehörde, sondern eine reine Widerspruchsstelle im Hause der DRV. Abhängig von der Widerspruchsbegründung kann ein weiteres Gutachten folgen. Weist die DRV auf Grundlage des Gutachtens den Widerspruch zurück, kann der Versicherte die Ablehnung vom zuständigen Sozialgericht überprüfen lassen. Die Klage muss ebenfalls innerhalb einer Frist von einem Monat ab Zugang des Widerspruchsbescheids beim Sozialgericht eingegangen sein. Das Sozialgericht fordert Befundberichte der behandelnden Ärzte an. In den meisten Fällen beauftragt sodann das Gericht ein nächstes Gutachten. Fällt dieses zu Ungunsten des Versicherten aus, erhält er das Gutachten zur Stellungnahme. Es folgt in der Regel eine mündliche Verhandlung. Weist das Sozialgericht die Klage ab, bleibt dem Versicherten noch die Möglichkeit, das erstinstanzliche Urteil vom Landessozialgericht überprüfen zu lassen - die meisten steigen jedoch erfahrungsgemäß weit früher bereits aus und nehmen die Entscheidung(en) hin.

Ist es also zweckdienlich, einen Rechtsanwalt mit der Vertretung im Rentenverfahren zu beauftragen? Grundsätzlich ja - sofern der Rechtsanwalt vertiefte Kenntnisse im Erwerbsminderungsrentenrecht besitzt, da es sich um ein ausgewiesenes Spezialgebiet handelt.

Zunächst zu den Ursachen einer Rentenablehnung in einem ganz normalen Verfahren: Der Gutachter - meist ein niedergelassener Arzt - wird von der RV mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt, das er in sehr vielen Fällen auf Grundlage einer 20- bis 40-minütigen Untersuchung erstellt. Zahlender Auftraggeber ist der Rentenversicherungsträger (RVT). 

Im Klageverfahren wird dann ein weiterer Gutachter beauftragt - vom Sozialgericht. Zunächst kann und muss man davon ausgehen, dass dieser der erste ist, der kein eigenes wirtschaftliche Interesse an dem Resultat seines Gutachtens hat. Aber auch hier ist besonderes Augenmaß geboten: Das Gericht kennt „seine“ Gutachter und daher auch deren Neigung, einen Versicherten wohlwollend oder eher skeptisch zu beurteilen.
Im besten Fall kennt auch der Rechtsanwalt die entsprechenden Mediziner und hat sich bereits auf deren Schwachstellen eingerichtet. Und hier liegt die Besonderheit bei diesen anwaltlichen Spezialisten: Sie kennen zum einen die Rechtslage und die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sowie die der unteren Instanzen. Zum anderen aber vermögen sie auch, die medizinische Gutachten mit all ihren Befunden und medizinischen Aussagen zu lesen, zu werten und auseinanderzunehmen. Oftmals enthält der Gutachtenauftrag Fragen, die ein Arzt aufgrund seiner medizinischen Ausbildung überhaupt nicht beantworten kann. Anstelle diese Frage entsprechend offen zu lassen, fühlt sich der medizinische Gutachter genötigt, auch diese fachfremden Beweisfragen zu beantworten - teils mit verheerenden Folgen für den Versicherten. Insoweit sollte der Anwalt bereits bei der Beweisanordnung intervenieren, sofern er der Überzeugung ist, dass Fragen gestellt werden, die nicht der Arzt/Mediziner, sondern alleine ein Berufskundler oder ein Jurist zu beantworten hat.

Beispiele:
1) Aufgrund des Gutachterauftrags soll der Arzt einschätzen, ob der Versicherte noch in der Lage ist, mittelschwere Tätigkeiten auszuüben. Der Begriff „mittelschwere Tätigkeiten“ ist jedoch kein medizinischer. Dem medizinischen Sachverständigen ist nicht abzuverlangen, diesen Begriff rentenrechtlich zu würdigen. Er hat isoliert seine Befunde zu erheben und der Jurist sodann festzustellen, ob ein Versicherte mit den festgestellten Einschränkungen noch mittelschwere Tätigkeiten auszuüben vermag.
2) Der medizinischer Gutachter stellt fest, dass der Versicherte nur noch Tätigkeiten zeitweise im Stehen, zeitweise im Sitzen sowie zeitweise im Gehen verrichten kann, Gleichwohl stellt er fest, dass der Versicherte über ein vollschichtiges Leistungsvermögen verfügt und die Rente daher abzulehnen sei. Das Gericht folgt der Einschätzung des medizinischen Gutachters. Hierbei verkennen Gutachter und Gericht, dass der Begriff „zeitweise“ rechtlich fest definiert ist, nämlich mit 10 % der Arbeitszeit. Daraus folgt bei Zugrundelegung eines sechsstündigen Arbeitstages, dass nach der medizinischen Aussage die Leistungsfähigkeit des Versicherte unter drei Stunden arbeitstäglich gesunken ist, so dass die Voraussetzungen für eine Rente wegen voller Erwerbsminderung vorliegen.
3) Im medizinischen Gutachten werden schmerzhafte Beeinträchtigungen in den Beinen und/oder Füßen festgestellt. Die abschließende Beweisfrage zur Wegefähigkeit beantwortet der medizinische Gutachter, dass diese vorliegt. Der im Erwerbsminderungsrentenrecht kundige Rechtsanwalt wird hier sofort intervenieren. Die Wegefähigkeit ist die Fähigkeit des Versicherten, zur Arbeit zu kommen. Verfügt er über keinen eigenen Pkw muss er nach der BSG-Rechtsprechung in der Lage sein, viermal am Tag eine Wegstrecke von 500 m in jeweils 20 Minuten zurückzulegen. Hierbei handelt es sich um eine gegriffene Größe: unabhängig von den tatsächlichen Gegebenheiten geht das BSG davon aus, dass der Versicherte morgens von seiner Wohnung zu den öffentlichen Verkehrsmitteln gelangen muss (500m), dann von der Zielhaltestelle zum Arbeitsplatz (500m) und am Abend wieder zurück. Allerdings wird hierbei oftmals verkannt, dass diese Wegstrecken von dem Versicherten schmerzfrei zu bewältigen sind.
4) Sollte der Versicherte über einen eigenen Pkw verfügen, kommt es grundsätzlich auf die Wegefähigkeit nicht an. Der medizinische Gutachter verweist in den meisten Fällen auf das Fahrzeug des Versicherten. Völlig unbeachtet bleibt der Umstand, dass der Versicherte, selbst wenn er über ein eigenes Fahrzeug verfügt, dieses auch in aller Regelmäßigkeit für den Arbeitsweg zu den Hauptverkehrszeiten nutzen muss. Oft genügt ein Blick in die Medikation: Denn die meisten Schmerzmittel und Psychopharmaka  setzen die Fähigkeit, am Straßenverkehr teilzunehmen, deutlich herab. Ist der Versicherte jedoch auf die Einnahme derartiger Medikamente angewiesen, darf von ihm auch nicht die regelmäßige, aufgedrängte Nutzung seines Fahrzeugs verlangt werden.

Zwar herrscht im Sozialrecht der Amtsermittlungsgrundsatz, mit dem das Gericht aber auch die Behörde verpflichtet sind, den Sachverhalt im Tätsächlichen und Rechtlichen gesetzeskonform zu würdigen. Von dem Versicherten selbst sind tiefe Kenntnisse des Rentenrechts nicht abzuverlangen. Er wird aber die einzelnen medizinischen und rechtlichen Einschätzungen nicht oder nur unzureichend verstehen bzw. nachvollziehen können. Insoweit ist es stets ratsam, sich sowohl im Widerspruchsverfahren als auch im gerichtlichen Verfahren fachkompetent vertreten zu lassen.